MV Agusta Turismo Veloce 800 Test 2015

Der erste Tourer der sportlichen Traditionsmarke

Wem die brandneue Turismo Veloce 800 schon bekannt vorkommt, liegt nicht ganz falsch - bereits 2013 wurde das Modell auf diversen Messen präsentiert. Allerdings wollte MV Agusta noch ein weiteres Jahr an seiner ersten Touring-Maschine arbeiten um sie zu perfektionieren.

Bei aller Subjektivität, manche Motorräder sind einfach häßlich. Sie sind vielleicht in den meisten anderen Belangen sehr gut, bleiben aber trotzdem einfach häßlich. Diese Motorräder werden daher auch nur wegen ihrer inneren Werte gekauft. Und von Leuten, die absichtlich zeigen wollen, dass ihnen gutes Design völlig Blunz´n ist. Am anderen Ende der Skala gibt es wunderschöne Motorräder. Die sind vielleicht nicht perfekt oder sogar in manchen Belangen richtig schlecht, bleiben aber trotzdem wunderschön. Diesen Motorrädern verzeiht man im Normalfall ihre Fehler - weil sie ganz einfach schon wegen ihrer Optik den Puls so sehr beschleunigen, dass alles andere ausgeblendet wird.

Ich bin ehrlich gestanden auch eher einer, der mit vielen Unzulänglichkeiten auf einem Motorrad leben kann, wenn dafür das Design passt - sehen und gesehen werden lautet die Devise. Und so hätte ich der bildhübschen MV Agusta Turismo Veloce 800 auch so einige Fehler zugestanden, immerhin ist es ja auch der erste Versuch der Italiener, ein Touring-Motorrad zu bauen. So weit sollte es aber gar nicht kommen, die Turismo Veloce 800 ist nämlich bereits jetzt in der ersten Auflage ein ganz großer Wurf - für eine MV Agusta wohlgemerkt. Und das meine ich nicht negativ sondern ganz realistisch auf die sportliche Tradition von MV bezogen. Dementsprechend agil und flott kann man auf der Veloce anrauchen, dementsprechend unumwunden wird man stets von der Maschine animiert, eine sportliche Gangart einzuschlagen.

110 PS sind nicht zwangsläufig zu wenig...

Da sich diese Sportlichkeit aber völlig ungezwungen wie von selbst einstellt, ist man auf der Turismo Veloce niemals ein Gehetzter sondern hat einfach nur Spaß am Fahren. Und das liegt vorrangig an zwei wichtigen Faktoren: Motor und Handling. Der Motor ist ein mittlerweile alter Bekannter, das 798 Kubik große Reihen-Dreizylinder-Triebwerk wird bereits in mehreren Modellen eingesetzt und kann in den starken RR-Versionen sogar 140 PS leisten. Dagegen muten die 110 PS bei 10.000 Touren der Turismo Veloce sogar ziemlich mau an. Allerdings nur am Papier. In freier Wildbahn merkt man nämlich sehr schnell, dass das Triebwerk nahezu optimal abgestimmt ist und jedes PS mehr die Performance eigentlich nur schlechter machen würde. Auch beim Drehmoment würde man nun keine großen Taten erwarten, 83 Newtonmeter bei 8000 Touren lassen wie bei den anderen 800er-Modellen eher eine Drehzahlgier vermuten als sanftes Anschieben von weit unten.

Elektronische Schalthilfe für noch mehr Spaß

Allerdings läßt mich ein Satz in der Präsentation der MV Agusta Turismo Veloce 800 aufhorchen: Es sollen von 3500 bis 10.300 Touren stets mindestens 90 Prozent des maximalen Drehmoments anliegen. Und das spürt man in der Praxis tatsächlich. Das, auf der Veloce meiner Meinung nach erstmals wirklich ausgezeichnet abgestimmte Ride-by-wire-System sorgt für eine immens homogene Leistungsentfaltung, die bereits von niedrigen Drehzahlen weg immer genug Schmalz serviert, ohne dem Begrenzer bei über 11.000 Umdrehungen zu nahe kommen zu müssen. Die obligatorischen Motor-Mappings für verschiedene Fahrbahnzustäne und Bedürfnisse (Sport, Touring, Rain und Benutzerdefiniert) sind nette Zutaten, da das Triebwerk aber ohnehin so angenehm und berechenbar funktioniert, kann man imTrockenen getrost den Sportmodus einlegen und dabei bleiben. Auf ein Feature möchte ich hingegen nicht mehr verzichten, den elektronischen Schaltautomaten EAS (Electronically Assisted Shift), der kupplungsfreies Hinauf- und Hinunterschalten erlaubt. Einfach herrlich, wie gut das System von MV Agusta werkt und wie schnell man sich an diese "Halb-Automatik" gewöhnt.

Mit Leichtigkeit um jede Kurve

Wirklich hervorragend wird der Motor aber erst im Zusammenspiel mit dem exzelenten Handling der Turismo Veloce 800. Schon das relativ geringe Gewicht von 191 Kilo läßt eine ausgeprägte Wendigkeit vermuten, bei der Veloce kommt auch noch diese gewisse Stabilität dazu, die sie von der nervösen MV Agusta Stradale 800 weit entfernt und in die Riege der ernstzunehmenden Tourer erhebt. Und da es gewiss nicht zu einer MV passen würde, wäre sie behäbig und träge, macht die Turismo Veloce 800 trotzdem genau das, was man von ihr erwarten darf: Viel Spaß mit ausgeprägter Sportlichkeit. Selbst das Fahrwerk mit einer voll verstellbaren Marzocchi-Gabel an der Front und einem ebenfalls voll verstellbaren Sachs-Federbein im Heck passt bereits im Grund-Setup bestens zum Charakter der Turismo Veloce 800: Komfortabel genug um auch schlechte Straßen erträglich zu machen, straff genug, um die Maschine mit hervorragender Präzision um jegliche Radien zu zirkeln.

Touring und Sport in Eintracht

Bei der Sitzposition setzen die Italiener sogar intern neue Maßstäbe - so bequem wr noch keine MV Agusta. Man merkt sehr schnell, dass das Chassis eine völlig neue Ausrichtung und rein gar nichts mit der bereits erwähnten vorderradorientierten Stradale 800 zu tun hat. Die aggressive Supermoto-Geometrie in allen Ehren, auf einem Tourer wäre sie eine ziemliche Themenverfehlung. Stattdessen nimmt man auf der Veloce eine angenehm aufrechte Sitzposition ein und sitzt in optimaler Entfernung vom Lenker auf dem ausreichend schmalen Sattel,der trotz 850 Millimeter Sitzhöhe einen guten Stand erlaubt. Am Sattel merkt man ebenfalls sehr deutlich die Bemühungen der Ingenieure, den Touring-Gedanken mit traditioneller Sportlichkeit zu mixen - für eine MV Agusta extrem bequem, im Vergleich mit anderen Tourern aber doch eher sportlich straff. Ähnlich verhält es sich mit der Bremsanlage, man bekommt genau das serviert, was man mit der rechten Hand ordert. Packt man fest zu, beißen auch die Brembo-Bremszangen vehement in die beiden 320er-Bremsscheiben. Geht man es hingegen locker an, reagieren auch die Bremsen angenehm leicht und keineswegs übernervös. Das serienmäßige ABS von Bosch arbeitet dabei unauffällig und nicht störend.

Viele praktische Features - MV Agusta meint es ernst

Die gesamte Turismo Veloce 800 zeigt jedenfalls sehr deutlich, dass sie keineswegs als halbherziger Tourer auf den Markt kommt, um einfach noch ein weiteres Segment zu besetzen sondern penibel durchdacht, mit vielen Features, die auf einem modernen Tourer nicht fehlen sollten: Das (optionale) Koffersystem etwa fasst auf beiden Seiten mit 30 Liter Volumen je einen Integralhelm (dank des ohnehin sehr kurzen, dreiflutigen Auspuffs musste beim Endtopf nichts geändert werden) und baut nicht breiter als der Lenker - womit das Durchschlängeln in Kolonnen vereinfacht wird. Ein Tempomat sowie eine achtfach verstellbare (und abschaltbare) Traktionskontrolle sind serienmäßig mit an Bord, zwei 12 Volt-Steckdosen werden durch zwei weitere USB-Stecker direkt unter dem Cockpit ergänzt und die Armaturen erstrahlen in einem Farb-TFT-Display, dessen Anzeige vielleicht ein wenig verspielt wirkt, dessen Bedienung mit nur einer Wippe am linken Lenker allerdings vorbildlich einfach ist.

Auch das dreifach verstellbare Windschild überzeugt mit einer watscheneinfachen Bedienung durch einen Hebel in der Mitte und bemüht sich redlich, den Druck und Verwirbelungen vom Fahrer fernzuhalten. Der Verstellbereich von 60 Millimeter kann mit Touringspezialisten anderer Hersteller zwar nicht konkurrieren, aber genau das ist so ein kleiner Makel über den ich gerne hinwegsehe, wenn ich die wunderschön geziechnete Front der Veloce mit dem herrlichen LED-Licht genieße.

Exklusivität hat ihren Preis

Der einzig wahre Wermutstropfen der Turismo Veloce 800 ist ohnehin ihr Preis: Bereits für die günstigste Version werden 17.575 Euro in Österreich und 14.990 Euro in Deutschland fällig, hinzu kommen noch rund 900 Euro für das optionale Koffersystem, ebenfalls zusätzlich auf Wunsch Hauptständer, Griffheizung und Garmin-Navigation. So richtig teuer wird es dann bei der Turismo Veloce 800 Lusso, die als Draufgabe ein elekrtronisch verstellbares Sachs Skyhook-Fahrwerk besitzt - 19.760 Euro in Österreich, 16.890 Euro in Deutschland. Damit rangiert sie auf einer Stufe mit deutlich großvolumigeren Modellen, die teilweise zwar noch bessere Touringeigenschaften bieten, allerdings in der Regel keine so herrlich kompakte und stimmige Einheit ergeben. Außerdem wurde die Turismo Veloce mit ihrem sportlichen Image und der atemberaubenden Optik geschickt zwischen alle Kategorien gestellt - konkurrenzlos einmalig!

Fazit: MV Agusta Turismo Veloce 800 2015

Geht man davon aus, dass die Turismo Veloce 800 MV Agustas Erstschlag im Bereich der Tourenmotorräder ist, darf sie durchaus als extrem gelungen gewertet werden. Das Design alleine ist schon hinreißend, die Fahrleistungen setzten noch eins drauf. Vor allem Motor und Handling spielen auf extrem hohem Niveau, das einerseits den nötigen Touring-Komfort nicht ignoriert, andererseits aber auch die sportliche Tradition von MV Agusta berücksichtigt. Insgesamt macht das ganze Paket einfach nur unheimlich viel Spaß - sowohl im engeren Kurvengewirr als auch auf weiteren Strecken. Einzig wahrer Schwachpunkt ist der hohe Preis, allerdings wird dadurch auch die gewisse Exklusivität gewahrt. Wer diese Hürde an der Kassa genommen hat, wird mit einem universell einsetzbaren Motorrad belohnt, das immer und überall Spaß und Freude macht - vor dem Eissalon genauso wie auf kurvigen Pässen.


  • kräftiges, durchzugsstarkes Triebwerk
  • ausgezeichnetes, agiles Handling
  • ausgewogene Fahrwerksabstimmung
  • angenehme Sitzposition
  • wunderschönes, eigenständiges Design
  • ABS serienmäßig, abschaltbar
  • Traktionskontrolle, 8-fach verstell- und abschaltbar
  • Farb-TFT-Display
  • Tempomat
  • 2 Ladebuchsen, 2 USB-Anschlüsse
  • hoher Grundpreis
  • Windschild etwas zu niedrig
  • Koffersystem nur gegen Aufpreis

Bericht vom 16.04.2015 | 29.705 Aufrufe