Oberklasse Technik im Midsize Bike - Yamaha Tracer 9 GT+ Test

Zu viel des Guten, oder eine echte Bereicherung?

Yamaha stellt das neue Flaggschiff ihres Sporttouring-Segments vor. Erstmals gibt es Features wie einen adaptiven Tempomaten und intelligente Bremsunterstützung an Bord einer Yamaha bzw. überhaupt erstmals an Bord eines Motorrads. Wie gut das im praktischen Gebrauch funktioniert, haben wir auf Sardinien überprüft.

Die Oberklasse der Touring Bikes wartet mit Technologie im Übermaß auf. Radar-unterstützte Tempomaten, Totwinkelassistenten, und und und... Unterhalb der 1200 Kubik und 25.000 € wird High-Tech am Motorrad aber deutlich seltener. Yamaha besitzt aber kein Motorrad in der Oberklasse der tourentauglichen Motorräder, möchte aber dennoch mit der Zeit gehen. Die Tracer 9 GT, Yamahas Sporttouring-Flaggschiff, ist immens wichtig für die Marke. 20 % aller Yamaha Verkäufe gehen auf die Tracer zurück. Ganze 150.000 Stück gingen seit ihrer Einführung im Jahr 2015 weltweit über den Ladentisch. Nun soll sie zumindest in puncto Elektronik mit den High-End-Bikes mithalten und bringt die Oberklassen-Technologie in das Midsize-Segment.

Fahrdynamisch alles beim Alten - Performance der Yamaha Tracer 9 GT+ 2023

Bei der Erstpräsentation der Tracer 9 GT+ auf Sardinien werden bei bestem Wetter 210 hauptsächlich kurvige Kilometer unter die Räder genommen. Die sardischen Straßen sind wie für Motorradfahrer geschaffen und hier fühlt sich die agile, quirlige Tracer 9 GT+ pudelwohl. Das ist auch überhaupt keine Offenbarung, denn fahrdynamisch besteht (fast) kein Unterschied zur normalen Tracer 9 GT. Da wir zur Yamaha Tracer 9 GT schon einige Tests online haben, beschränke ich meine Ausführungen zum Fahrverhalten auf eine kurze Zusammenfassung.

Die Ergonomie der Tracer 9 GT+ ist gut gelungen und trotz nasser 223 kg, doch deutlich mehr als so manch anderer Sporttourer, fühlt sie sich in allen Fahrsituationen äußerst agil an. Hinzu kommt der quirlige CP3-Reihendreizylinder, der 119 PS bei 10.000 U/min und 93 Nm bei 7.000 U/min leistet und mit seiner Drehfreude und etwas räudigem, wilden Charakter ab der Mitte des Drehzahlbandes ein echtes Spaßaggregat ist. Das semi-aktive Fahrwerk schafft eine gute Spreizung zwischen komfortabel und sportlich, je nachdem welche der zwei Stufen man wählt. Die Bremsen sind fein dosierbar und bissig genug, notorische Spätbremser werden sich aber potentere Ware wünschen. Die ambitionierten Heizer wünschen sich auch mehr Schräglagenfreiheit, für mich und 90% der Fahrer da draußen reicht diese aber für richtig viel Fahrspaß. Richtig gut ist die neue Anpassung des semi-aktiven Fahrwerks bei Beschleunigung und Bremsvorgängen. Beim Verzögern wird die Dämpfung der Upside-Down-Gabel erhöht, wodurch diese deutlich weniger eintaucht. Beim Gas-Anlegen verhärtet sich das Federbein und das Heck sinkt weniger ein. Das Ergebnis dieser Anti-Dive-Technologie ist ein sehr stabiles Fahrgefühl, wodurch sich die agile Maschine extrem präzise in den Radius lenken lässt. Mit viel Selbstvertrauen und fast ohne jegliches Aufstellmoment bremst man tief in die Kurve und kann dort sportlich Gas anlegen, ohne Bewegung oder Instabilität ins Fahrzeug zu bringen. Übertreibt man es, dann sind schräglagenabhängige Traktionskontrolle und Kurven-ABS zur Stelle. Was besser sein könnte, ist der Windschutz des verstellbaren Windschilds, das mir mit meinen 1,85 m in der hohen Position den Wind auf Augenhöhe an den Helm leitet, und die Stabilität bei hohen Geschwindigkeiten ab 150 - 160 km/h und mehr. In Summe ein tolles Touren-Motorrad mit massivem Spaß-Faktor.

Was ist neu? - Yamaha Tracer 9 GT+ 2023 Neuerungen

Die Fahrdynamik auf der Tracer 9 GT hat in den vergangenen Tests auch immer gut abgeschnitten, aber bei der Peripherie war nicht alles eitel Wonne, vor allem in Bezug auf die Elektronik. Bei der Tracer 9 GT+ leuchtet einem endlich nicht mehr das an Tadeus von Spongebob erinnernde, zweigeteilte Display entgegen, sondern das hochmoderne und zeitgemäße 7-Zoll-TFT-Display vom TMax Roller. Abgesehen von der um Welten besseren Ablesbarkeit, sind auch Features wie Smartphone-Konnektivität und sogar die Spiegelung von Garmin Navigation nun mit an Bord. Zur Verbindung des Smartphones braucht es die Yamaha MyRide App und zur Nutzung von 3D-Navigation von Garmin die kostenpflichtige Garmin Motorize App. Gesteuert wird alles auch nicht mehr per hakeligem Drehrad, denn auch die Armaturen und Schaltereinheiten wurden überarbeitet. Mit dem 5-Wege-Joystick schaltet es sich deutlich intuitiver und einfacher durch die Menüs, die äußerst üppig und tiefgehend ausfallen. Die Fahrmodi werden auch nicht mehr mit nichtssagenden Zahlen bezeichnet, sondern tragen verständliche Namen wie Street, Sport, Rain und Custom. Die Parameter der 4-stufigen Gasannahme, 3-stufigen Traktionskontrolle, 3-stufigen Wheelie-Kontrolle, 3-stufigen Stability-Control und der zwei Stufen des Fahrwerks sind an die Fahrmodi gekoppelt. Im Custom-Modus kann jeder Parameter nach den eigenen Wünschen eingestellt werden. Zusätzlich kann das Display auch drei verschiedene Layouts anzeigen und bietet einen USB-Anschluss gleich unterhalb des TFTs.

Yamaha Tracer 9 GT+ 2023
Kein Tadeus mehr! Das neue 7-Zoll-TFT-Display ist ein großer Fortschritt.

Weitere Neuerungen gibt es beim Sattel, der zwischen 820 und 835 mm verstellbar ist und nun durch eine leicht veränderte Form das Erreichen des Bodens erleichtert. Im Fahrbetrieb punktet der Yamaha Quickshifter, der schon immer durch knackige Schaltvorgänge in allen Lagen außer bei niedrigsten Drehzahlen begeisterte, jetzt aber in der dritten Generation auch bei Beschleunigung runterschalten und bei geschlossenem Gas hochschalten kann. Die spannendsten Neuerungen sind aber definitv der erste abstandsregelnde Tempomat von Yamaha und das überhaupt einzigartige Radar Linked Unified Brake System.

Adaptiver Tempomat in der Yamaha Tracer 9 GT+ 2023

Die Adaptive Cruise Control (ACC), also der radarunterstützte, adaptive Tempomat, ist schon aus Motorrad-Modellen wie z. B. der Ducati Multistrada V4 S oder der KTM 1290 Super Adventure S bekannt. In der Mittelklasse der Touring-Motorräder sucht man dieses Feature aber bisher vergeblich. Yamaha hat dieses System zum ersten Mal für ein Motorrad entwickelt und sich dabei einiges überlegt. Der adaptive Tempomat nutzt die zwischen den Scheinwerfern liegende Radar-Einheit, um Fahrzeuge vor dem Motorrad zu erkennen. Fährt man auf diese auf, wird ab einer gewissen Distanz automatisch die Geschwindigkeit verringert, ohne dass der Fahrer auch nur einen Finger rührt. Damit es hier nicht zu Schreckmomenten kommt, verringert das System die Geschwindigkeit sehr behutsam und progressiv. Zuerst wird Gas weggenommen und die Motorbremse genutzt, danach erst die Bremsen betätigt. Welcher Abstand dabei zum vorderen Fahrzeug eingehalten wird, kann in vier Stufen eingestellt werden. Dabei handelt es sich nicht um fixe Distanzen, sondern um zeitliche Abstände. Die weiteste Stufe hält zwei Sekunden Abstand, die knappeste eine Sekunde. Bei einer Geschwindigkeit von 100 km/h sind das 54 bzw. 27 m. Auch Überholmanöver sind möglich mit der ACC, denn sobald der linke Blinker betätigt wird, fängt das System an sanft zu beschleunigen. Der Überholvorgang dauert so zwar deutlich länger als manuell durchgeführt, aber auch ein LKW wird von mir überholt, ohne den Gasgriff zu berühren. Damit die Tracer 9 GT+ bei den verschiedenen Manövern möglichst stabil bleibt, steuert wieder das semiaktive Fahrwerk mit.

Yamaha Tracer 9 GT+ 2023
Die Radareinheit zwischen den LED-Scheinwerfern ist das Herzstück der neuen Technologien auf der Tracer.

Der Tempomat funktioniert zwischen 30 und 160 km/h und kann somit auch im Ortsgebiet oder auf der Landstraße eingesetzt werden. Um zu verhindern, dass das System bei uneinsichtigen Kurven, die den Verkehr vor einem kurzfristig verdecken, wieder Gas gibt, beschleunigt der adaptive Tempomat ab einer gewissen Schräglage nicht mehr. Erst wenn man sich aufrichtet und sofern man freie Fahrt hat, nimmt das Motorrad wieder die eingestellte Geschwindigkeit auf. Ein weiteres tolles Feature ist, dass auch Schaltvorgänge möglich sind, ohne dass das System beendet wird. Und das mit und ohne Quickshifter. Das ist sehr praktisch bei stärkeren Verzögerungen, z. B. bei Staubildung, wo man von einer höheren Geschwindigkeit auf unter 50 km/h abgebremst wird. Sobald der 6. Gang nicht mehr passt, zeigt das System das an und ein schneller Tritt auf den Quickshifter reicht aus, um bei langsamer Geschwindigkeit mit dem Tempomat weiterzufahren. Löst sicher der Stau auf, beschleunigt das Motorrad wieder und man schaltet wieder hoch. Auch für flottere Überholmanöver lässt es sich zwei, drei Gänge runterschalten, um die Power der höheren Drehzahlen auszunutzen. Möchte man lieber manuell schalten, ist auch das möglich. Erst eine einsekündige Betätigung des Kupplungshebels deaktiviert das System.

Kollisionsvermeidung auf der Yamaha Tracer 9 GT+?

Das Radar Linked Unified Brake System ist die zweite große Technologie-Neuheit. Und das nicht nur auf der Tracer 9 GT+, sondern weltweit. Dabei handelt es sich um ein aktives Bremsunterstützungssystem, das Hindernisse mit der Radar-Einheit erkennt und dann möglichst optimale Bremsmanöver ermöglicht. Aber Achtung: Zwischen dem adaptiven Tempomaten und dem Unified Brake System (UBS) muss klar unterschieden werden! Denn während die Tracer bei eingeschaltetem Tempomaten durchaus von selbst verzögert und bremst, macht sie das ohne ACC niemals. Das UBS ist nämlich nur aktiv, wenn schon vom Fahrer manuell gebremst wird. Vorne und/oder hinten muss schon mindestens eine Bremse betätigt werden, damit das UBS die Straße vor dem Motorrad per Radar scannt. Erkennt es ein Hindernis, kann es sich durch Einbezug der vielen Sensoren am Bike errechnen, ob sich der Bremsvorgang ausgeht, bevor man ins Hindernis knallt. Ist dem nicht so, werden die Bremsen progressiv angelegt und der schon eingeleitete Bremsvorgang verstärkt und optimiert. Dabei funktioniert das System ähnlich zu einer alten Kombinationsbremse, allerdings intelligenter. Durch den Schräglagensensor, Traktionskontrolle und ABS weiß das UBS auch, ob es in dem Moment gut ist, vorne oder hinten mitzubremsen, und handelt entsprechend.

Yamaha Tracer 9 GT+ 2023
Wenn sich die Gruppe vor einer engen Kurve zusammenstaut, kann es dem Unified Brake System schon zu knapp werden. Die Bremsunterstützung passiert aber sanft genug, um keinerlei Unruhe in die Fahrt zu bringen. Möchte man keinen Eingriff, muss man nur die Brake Control deaktivieren.

Solche Not-Systeme sind natürlich schwer zu testen, ohne Leib und Leben zu riskieren. Bei unserer Testfahrt fahre ich dem vor mir fahrenden Kollegen mehrfach bewusst knapp auf, um zu sehen wie das UBS reagiert. Tatsächlich greift das System ab einem Abstand von 3 bis 5 Metern in die Bremsen und verzögert. Das passiert, wie auch bei der ACC, progressiv und nicht zu vehement. Später bei rasanterer Kurvenfahrt passiert es mir sogar unfreiwillig, dass ich das UBS auslöse. Vor Kehren und scharfen Kurven und bei knapperen Abständen in der Gruppe wird es dem System auch zu knapp. Bei allzu rabiatem Auffahren mit höherer Geschwindigkeitsdifferenz ploppt im Display sogar groß eine orange Kollisionswarnung auf. Aus Sicherheitsgründen sollte man zwar immer einen gewissen Abstand einhalten, aber wer sich gerne duelliert, oder die Tracer 9 GT+ auch auf die Rennstrecke entführen will und keine elektronische Einflussnahme wünscht, der muss einfach nur die Brake Control im Menü deaktivieren und schon bremst die Tracer 9 GT+ wieder ganz konventionell. Gerade durch diese Abschaltbarkeit sehe ich beim Unified Brake System nur Vorteile. Stört es, dann kann man es einfach wegschalten. Doch bei Schreckbremsungen ist man als Durschnittsfahrer nicht vor Fehlern gefeit, vergisst in dem Moment vielleicht auf die Hinterradbremse oder betätigt die Bremsen nicht vollends und schon kann das dramatische Folgen haben. Das UBS System kann hier rettend eingreifen und lohnt sich meiner Meinung nach schon, wenn es auch nur einen Unfall vermeidet.

Preis & Verfügbarkeit der Yamaha Tracer 9 GT+ 2023

Für die Upgrades der GT+ - das neue TFT-Display, die überarbeitete Elektronik, die "Anti-Dive"-Technik des Fahrwerks, den adaptiven Tempomaten und die Bremsunterstützung - verlangt Yamaha im Vergleich zur Standard GT einen Aufpreis von 1.900 € in Österreich. Damit liegen wir bei 18.399 €. In Deutschland kostet die Tracer 9 GT+ 16.899 € und in der Schweiz 17'190 CHF. Sie soll ab Juni 2023 bei den Händlern verfügbar sein.

Fazit: Yamaha Tracer 9 GT+ 2023

Fahrdynamisch bleibt die Yamaha Tracer 9 GT+ nahezu ident zur normalen GT und ist dementsprechend ein quirliges, sehr agiles Funbike mit guten Touring-Qualitäten. Der Motor ist drehfreudig, das semi-aktive Fahrwerk stabil und die Ergonomie gelungen. Bei fröhlicher Kurvenjagd begeistert zudem das neue Anti-Dive-System des Fahrwerks. Der Hingucker bei der GT+ sind aber das gigantische TFT-Display, der adaptive Tempomat und das intelligente System zur Bremsunterstützung. In Summe eine gelungene Weiterentwicklung der Yamaha Tracer 9 GT.


  • Spaßiger, drehfreudiger Motor
  • Agiles Handling
  • Top Quickshifter (3rd Gen)
  • Praktische Touring-Ausstattung
  • Gut funktionierender adaptiver Tempomat
  • Riesiges, gut ablesbares TFT-Display
  • Verbesserte Bedienung der Elektronik
  • Sicherheit spendende Bremsunterstützung
  • Standgeräusch auf 95 dB gesenkt
  • Mäßiger Windschutz ab einer gewissen Größe
  • Etwas nervös bei hohen Geschwindigkeiten über 150 km/h

Bericht vom 30.04.2023 | 27.447 Aufrufe

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