Nackenschutz

Interview mit 2 der wichtigsten Hersteller für Nackenschutzsysteme. Christian Panny holte Chris Leatt und Hartmut Semsch zum Thema Nackenschutz für Motorradfahrer vors Mikrofon.

Heinz Kinigadner sagte einmal über die Leatt-Brace, sie könnte so bahnbrechend sein wie einst der Sturzhelm. Der südafrikanische Arzt Dr. Chris Leatt bietet mit seinem System erstmals einen Nackenschutz an, der nichts mit dem klassischen Konzept der Schaumstoffhalskrause zu tun hat. Noch heuer soll die Leatt-Brace auch in unseren Breiten verfügbar sein. FLATOUT.Rider Christian Panny hat für 1000PS mit Chris Leatt über sein Schutzsystem gesprochen.

Cyril Despres testet die Bewegungsfreiheit der Leatt-Brace

 

(1000ps) Chris Leatt, wann und warum haben Sie begonnen, Ihr eigenes Nackenschutzsystem zu entwickeln?
 

(Chris Leatt) Für mich hat alles vor viereinhalb Jahren begonnen. Bei einem Enduro-Event hier in Südafrika ist ein Fahrer, den ich recht gut kannte, bei geringer Geschwindigkeit gestürzt. Er brach sich das Genick und starb. Ich habe noch direkt an der Strecke versucht, ihn wieder zu beleben. Doch am Ende musste ich seiner Frau und seinen kleinen Kindern sagen, dass er tot ist. Mein Sohn ist neun Jahre alt. Er fährt Junior-Motocross. Ich war Anfangs nicht begeistert von den Nackenschutzsystemen am Markt. Das sind ja fast ausschließlich Nackenstützen aus Schaumstoff. In meinen Augen sind diese Systeme nicht effektiv genug.
 

(1000ps) Wie sind Sie auf die Form der Leatt-Brace gekommen? Auf den ersten Blick erinnert sie an den HANS-Nackenschutz im Autorennsport.
 

(Chris Leatt) Viele vergleichen die Leatt-Brace mit HANS. Aber unser Zugang ist ein fundamental anderer. Die Form der Brace ist das Ergebnis einer doppelgleisigen Entwicklungsarbeit. Da sind zum einen die medizinischen Daten: Wir haben zahlreiche, auch neurologische Studien analysiert, um herauszufinden, welche Mechanismen bei einem Sturz im Detail zusammenspielen, wenn es zu einer Genickverletzung kommt. Mit diesem Wissen haben wir versucht, ein Produkt zu entwickeln, das den wesentlichen Verletzungsmomenten entgegenwirkt. Zugleich haben wir die Brace bei jedem Entwicklungsschritt von professionellen Motorradfahrern testen lassen. Sie gaben uns auch nach der kleinsten Änderung das Feedback, ob die Brace im Einsatz nach wie vor praktikabel ist. Die Analyse der medizinischen Daten und die Praxistests haben schlussendlich zu der Form geführt, die die Leatt-Brace heute hat. Und ich bin überzeugt, dass sie genau diese Form haben muss. Denn im Grunde geht es bei einem Sturz darum, den Kopf auf dem Weg in eine lebensbedrohliche Lage kontrolliert abzubremsen und dabei gleichzeitig die Dehnungskräfte, die auf das Genick wirken, möglichst klein zu halten.
 

(1000ps) Als wir die Leatt-Brace auf 1000ps vorgestellt haben, gab es viele Fragen, ob das System die Luftzirkulation im Helm behindert und daher speziell im Renneinsatz auf Dauer zu schweißtreibend ist.
 

(Chris Leatt) Ein großer Teil unserer Entwicklungsarbeit hier in Südafrika hat unter sehr heißen Bedingungen stattgefunden. Das Material, die Form und speziell die Verarbeitung an der Unterseite der Brace lassen ausreichend Luft zirkulieren. Während der Tests bekamen wir jedenfalls nie die Rückmeldung, das System sei unangenehm heiß.
 

(1000ps) Ist es möglich, dass die Leatt-Brace während eines Sturzes selbst bricht und dass der Fahrer dadurch verletzt werden kann?
 

(Chris Leatt) Alle Teile, die an der Haut oder nahe am Hals liegen, sind aus Kevlar. Aus dem gleichen Material sind auch kugelsichere Westen. Sie können mit dem Auto über die Brace fahren. Sie wird brechen, aber es wird keine Splitter und keine scharfen Bruchkanten geben. Die gesamte Innenseite ist mit Schaumstoff ausgelegt. In der Testphase hatten wir über 100 Stürze und nie gab es eine Verletzung, die durch die Brace an sich verursacht wurde.
 

(1000ps) In den vergangenen zwei Jahren ist eine Reihe auch bekannter Fahrer bei Wüstenrennen an Genickverletzungen gestorben. Glauben Sie, dass einige noch am Leben wären, hätten sie diesen Nackenschutz getragen?
 

(Chris Leatt) Unser Ziel ist, katastrophale Genickverletzungen um rund 75 Prozent zu reduzieren. Das entspricht in etwa der Reduktion von Kopfverletzungen durch den Sturzhelm. Wir verwenden eine sehr ausgefeilte Crash-Reproduktions-Software, mit der wir die Besonderheiten von Motorradstürzen besser simulieren können. Das ist sehr schwierig, denn bei Motorradunfällen trifft man meist zuerst auf die Instrumente über dem Lenker bevor man vom Motorrad geschleudert wird. Wir sind überzeugt, die Zahl der verletzungsauslösenden Faktoren dramatisch reduzieren zu können. Und meine Meinung ist, dass einige dieser Todesfälle mit unserem System zu verhindern gewesen wären.
 

(1000ps) Zwar steht außer Streit, dass man bei der eigenen Gesundheit nie sparen sollte. Dennoch ist die Leatt-Brace im Vergleich mit anderen Nackenschutzsystemen doch recht teuer....

(Chris Leatt) Wir bieten derzeit drei Versionen an. Die billigste kostet 375 US Dollar. Alle drei Versionen haben den gleichen Effekt. Unterschiedlich sind das Gewicht und die verwendeten Materialien. Die Leatt-Brace ist nicht ganz einfach herzustellen. Pro Brace verwenden wir mehr als 80 Teile. Wir hoffen allerdings, billiger zu werden, wenn wir die Produktionskapazitäten vergrößern können.
 

(1000ps) Wann wird es die Leatt-Brace in Österreich und Deutschland zu kaufen geben?

(Chris Leatt) Wir sind derzeit mit einigen großen Firmen in Kontakt. Die Brace wird jedenfalls in drei bis vier Monaten bei einigen Händlern in Europa erhältlich sein. Und natürlich über das Internet. Hier machen die Lieferkosten den Preis aber leider etwas höher.
 

(Interview: Christian Panny)

http://www.leatt-brace.com

Leatt Brace Story auf 1000ps
 

Die Orthopädieexperten von ORTEMA sind seit langem eine fixe Größe speziell bei so genannten Risikosportarten. Mit der X-Neck hat Ortema einen Nackenschutz auf den Markt gebracht, der ganz bewusst sehr klein, sehr schlank und sehr leicht sein sollte. FLATOUT.Rider Christian Panny hat für 1000PS mit ORTEMA-Geschäftsführer Hartmut Semsch über die Sicherheitslücke beim Motorradfahren gesprochen.
 
Cyril Despres und Hartmut Semsch mit der "X-Neck" im Ortema-Hauptquartier
 

(1000ps) Hartmut Semsch, spätestens seit den Horrorstürzen von Fabrizio Meoni und Richard Sainct ist die Suche nach einem effektiven Nackenschutz immer intensiver geworden. Ortemas Beitrag dazu die X-Neck sieht auf den ersten Blick recht unspektakulär aus. Braucht es wirklich nicht mehr?

(Hartmut Semsch) Das ist wahrscheinlich die Gretchenfrage: wie viel oder wie wenig braucht man, um bei einem Sturz zu verhindern, dass der Nacken des Fahrers zu stark nach hinten überstreckt? Es ist nun mal eine Tatsache, dass DIE Sicherheitslücke beim Motorradfahren zwischen Brustpanzer und Helm liegt. Und diese Sicherheitslücke betrifft ausgerechnet die menschliche Halswirbelsäule, die am stärksten beweglich ist, sehr viel Rotation und Seitneigung ausführen kann und natürlich extrem gefährdet ist, weil sie von der Muskulatur nicht so stark bedeckt ist wie zum Beispiel der Rücken oder die Lendenwirbelsäule. Und der Punkt ist, den in Relation eher schweren Kopf ausreichend zu stabilisieren, damit es nicht zu dramatischen Verletzungen kommt.

(1000ps) Reicht da die X-Neck?

(Hartmut Semsch) Ich würde sagen Ja. Wobei ich auch klar eingestehen muss, dass es wohl mehrere Wege nach Rom geben wird. Es werden von verschiedenen Herstellern verschiedene Produkte angeboten. Ich aber sehe große Probleme bei der Akzeptanz sehr umfangreicher Nackenschutzsysteme. Die X-Neck ist für mich ein erster Schritt in die richtige Richtung.

(1000ps) Wenn Sie andere Hersteller ansprechen, meinen Sie selbstverständlich auch Chris Leatt. Was ist aus Ihrer Sicht der Unterschied zwischen ihrer Lösung und dem Weg von Chris Leatt?

(Hartmut Semsch) Wir kommen aus der Orthopädie und haben viel mit Biomechanik und der Anatomie des menschlichen Körpers zu tun. Daher versuchen wir immer, unsere Produkte dem menschlichen Körper anzupassen. Das heißt: ich möchte so viel Schutz wie nötig, aber so wenig technischen Aufwand wie möglich. Das ist immer eine Gratwanderung! Die Leatt-Brace ist sehr viel umfangreicher. Trotzdem muss man sagen: die Untersuchungen, die Dr. Leatt gemacht hat, sind hervorragend. Das ist Grundlagenforschung. Ich stehe aber auf dem Standpunkt, dass der Schutz kleiner, tragbarer sein muss. Wir haben Messungen gemacht; und die zeigen bei der Überstreckung der Halswirbelsäule nach Hinten oder zur Seite eigentlich keinen signifikanten Unterschied (zur Leatt-Brace Red.). Ich arbeite allerdings noch daran, die Auflagefläche etwas zu verbreitern, damit wir einen noch effektiveren Schutz haben.

(1000ps) In welcher Situation ist man mit der X-Neck definitiv besser geschützt als ohne?

(Hartmut Semsch) Sicherlich bei der bereits angesprochenen Überstreckung des Kopfes. Also beim Schlag auf die Helmunterkante von schräg unten vorne, was zu einem schlagartigen und abrupten Nach-Hinten-Drehen des Kopfes führt. Wir sehen einen gewissen zusätzlichen Schutzfaktor auch im Bereich des Schlüsselbeins.

(1000ps) Viele Fahrer sind skeptisch und sagen, ein Nackenschutz schränke die Bewegungsfreiheit des Kopfes zu sehr ein.

(Hartmut Semsch) Diese Angst ist unbegründet. Viele Skeptiker, die die X-Neck ausprobiert haben, sind eines Besseren belehrt worden. Sie sagten uns, dass man nach kürzester Eingewöhnungszeit eigentlich überhaupt keine Adaptionsprobleme habe.

(1000ps) Cyril Despres hat Sie bei der Entwicklung der X-Neck unterstützt. Und er hat sie auch bei der Rallye Dakar getragen. Wie hat er sich eingebracht?

(Hartmut Semsch) Cyril war gemeinsam mit Stephane Peterhansel bei unserem Entwicklungsteam und hat unser System sehr intensiv mit unserem Chefarzt für Sportorthopädie analysiert und diskutiert. Für uns war das ja der erste Versuch, ein System, das wir uns ausgedacht und biomechanisch berechnet haben, einem Profi nahe zu bringen. Cyril hatte seine Ausrüstung dabei und wir haben die X-Neck am Kragen der Endurojacke adaptiert. Wir haben weiters getestet, welche Höhe, welche Breite und welche Schaumhärte er gut findet. Durch die Arbeit mit Cyril haben wir dann auch gesehen, dass wir zu Beginn der Entwicklung eigentlich nicht in die ganz richtige Richtung unterwegs waren. Wir hatten die Prototypen viel zu hoch und zu hart gebaut. Jetzt ist die Konstruktion deutlich kürzer und das Material ist weicher.

(1000ps) Sehen Sie den Einsatzbereich für die X-Neck nur im Offroad-Bereich oder auch auf der Straße?

(Hartmut Semsch) Ich persönlich verwende seit zwei Jahren auch im Straßenbetrieb eine X-Neck. Das ist vor allem am Anfang der Saison sehr angenehm. Weil da ist die Nackenmuskulatur noch nicht so gestärkt; die X-Neck vermittelt da ein Gefühl der Stabilität. Ich denke, die X-Neck wird sich auch im Straßenbereich durchsetzen.

(1000ps) Wie sehen Sie die Zukunft? Bleibt der Nackenschutz ein Randthema eher nur für Sportfahrer? Oder werden Nackenschutzsysteme in Zukunft zur normalen Ausrüstung aller Motorradfahrer gehören?

(Hartmut Semsch) Vor zehn Jahren wurden Mountainbiker noch belächelt, wenn sie mit Helm fuhren. Im Snowboardbereich setzen heute auch immer mehr Boarder einen Helm statt der coolen Pudelmütze auf. Ich denke, das Thema Nackenschutz ist nicht mehr wegzudiskutieren. Ich habe auch schon Gespräche mit Versicherungen geführt. Für die ist das Thema enorm interessant, weil Verletzungen der Halswirbelsäule zu den teuersten gehören. Ich glaube auch, dass die Kooperation von BMW und KTM in diesem Bereich dazu beitragen wird, das Thema in der Öffentlichkeit zu beleben.
 

(Interview: Christian Panny)

http://www.ortema.com

Dakar-Sieger Cyril Despres ist einer der Spitzenfahrer, die die neuen Nackenschutzsysteme getestet und auch im Rennen eingesetzt haben. Welche Erfahrungen er damit gemacht hat, kannst Du auf www.FLATOUT.tv in einem Interview mit Despres nachlesen.

   
Autor

Bericht vom 20.04.2006 | 14.845 Aufrufe

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